Dr. Barbara Sobczyk

RAUM - BEWEGUNG - SICHERHEIT

DAS MOBILE KLASSENZIMMER ALS BASIS

GANZHEITLICHEN LERNENS

Das mobile Klassenzimmer - ein Raum, bei dem das übliche Schulmobiliar durch bewegliche, leicht zu handhabende Teile, wie Quader, Halbwalzen, Tischplatten ersetzt wurde eröffnet Möglichkeiten, das Klassenzimmer als Arbeits- und Bewegungsraum immer wieder neu zu gestalten. Die Kinder sind nicht mehr stillgesetzt, sondern als aktiv Handelnde gefragt, wenn sie ihre Arbeitsplätze einrichten, Unterricht inszenieren, oder auch ihren "Schulkörper" als lebenden Körper thematisieren.

Der Beitrag versucht, die Prozesse zu beschreiben und zu interpretieren, die in einem solchen dynamischen Unterrichtsgeschehen ablaufen, insbesondere unter dem Aspekt des Sinnessicherwerdens der Kinder.

Das "Mobile Klassenzimmer" - vielleicht erahnen Sie vom Projekttitel her schon etwas - ist eine andere Art von Klassenzimmer, als wir es üblicherweise kennen.

Wer in einem solchen Klassenraum hineinschaut, sieht möglicherweise Schüler große tischplattenähnliche Teile, würfel- und halbwalzenförmige Baukörper tragen. Nach einer Weile formiert sich ein Eindruck - Stände werden aufgebaut - eine Marktszene entsteht, Verkäufer hinter den Ständen, ausgelegte Waren, Preisschilder - davor die Käufer. Vor der Wandtafel bauen zwei Schüler eine Treppe auf, notieren Preise und Einkaufsmengen, die ihnen die Verkäufer oder Käufer zurufen. Ein Teil der Schüler sitzt im Halbkreis zur Tafel, sie rechnen, aus der Marktszene scheint sich Mathematikunterricht zu entwickeln.

Oder ein Zuschauer kann folgende Szene beobachten: eine Bühne wird aufgebaut. Es findet wohl eine Vorführung statt. Zwei Schülerinnen als Akteure auf der Bühne. Während des Bühnenaufbaus formieren sich Zuschauer auf verschiedenen mitgebrachten Sitzgelegenheiten, sich die Zeit nüt Balancieren und Schaukeln vertreibend, andere suchen eine bequeme

Bauchlage auf der Halbwalze zu finden oder schauen im Schneidersitz auf ihrem Sitzwürfel neugierig zur Bühne hin.

Oder: Eine Szene, bei der Schüler mit Baukörpern angerückt kommen, um den Raum in verschiedene Kleinräume zu verwandeln.

Der Zuschauer ist bei solcherart Unterricht möglicherweise irritiert. Ist das überhaupt noch Schulunterricht, wenn alles so durcheinandergeht? Die gewohnte Ordnung im Schulraum ist aufgelöst. Die Kinder bewegen sich, ohne daß sie eigens dazu aufgefordert sind. Wie regelt sich das eigentlich? Besteht nicht die Gefahr von Kollisionen, Rempeleien? Wer garantiert Sicherheit?

Im herkömmlichen Unterricht herrscht Ordnung. Die Aufstellung der Stähle, Bänke, Tische sorgt für klare S en. Jeder Schüler weiß, wo er hingehört, was zu tun erlaubt ist. Bewegt wird sich nach Aufforderung des Lehrenden, ansonsten ist Sitzen angesagt. Der Schülerkörper ist gleichsam stillgelegt. "Die Körper der Lehrenden und Lernenden sind nach dieser Schulidee gemäß in den meisten für wichtig gehaltenen Stunden damit befaßt zu sitzen" [1]. Bewegung ist reduziert auf kleinmotorische Vorgänge, wie Bücher auf- und zuklappen, Stifte berühren, Schreiben, Mundbewegungen. Ein solcher Unterricht ist gegen Kollisionen im Raum gefeit. Die Sitzordnung garantiert einen gesicherten Unterrichtsverlauf, überwacht durch die Lehrperson.

Die festgefrorene Innenarchitektur des Schulraumes "aufzutauen" ist die Grundidee für ein mobiles Klassenzimmer. Anstelle der Stähle und Schultische stehen mobile Teile wie Quader, Halbwalzen, zylindrische Abschnitte zur Verfügung, die leicht handhabbar sind und prinzipiell eine ständige Umgestaltung des Klassenraumes ermöglichen. Der Schulraum ist ein anderer geworden: Schon das ansonsten typische angelehnte Sitzen hat sich verändert. Ich muß meine "Lehne" selbst aktiv herstellen, mich aufrecht halten. Noch mehr muß ich tun, wenn ich auf der Halbwalze sitze, ob rittlings oder seitlings. Es gilt zusätzlich zum Sitzen auf dem Sitzquader noch ständig in Balance zu bleiben. Aber weit mehr, die Mobilität der Teile fordert geradezu zum Umbauen heraus. Schnell ist ein Sitzkreis einzurichten, ein Arbeitsplatz für eine kleine Gruppe oder für mich allein bereitzustellen. Mit der Mobilität der Innenarchitektur ist auch die Inszenierung von Unterricht mobiler, variabler geworden, Unterrichtsszenen werden über den entsprechenden Einsatz der Requisiten gestaltet. Die Schüler lernen nicht nur aktiv handelnd Unterricht zu inszenieren, sie lernen auch den sicheren Umgang mit den Teilen, stimmiges Aufbauen, Rücksichtnahme auf andere Schüler und gegenseitigem Helfen bei der Szenengestaltung. Die Sicherheit im Raum ist ihnen verantwortlich aufgegeben. Aber auch die Kinder selbst - so können wir nach einem Jahr "mobile Klasse" beobachten, haben sich verändert. Verglichen rast einer Klasse mit herkömmlicher Klassenraums zeigt sich bei den Kindern der mobilen Klasse eine deutliche Verbesserung der Körperhaltung. Die medizinischen Untersuchungen, die der Orthopäde Norbert Möllers zu Beginn und Ende des Schuljahres 1995 und 1996 vorgenommen und ausgewertet hat, belegen diese signifikante Zunahme bezüglich der Haltungsausdauer bei den "freisitzenden" Kindern.

Über diese körperlichen Veränderungen hinaus können wir beobachten, daß die Kinder in ihrem Auftreten, in ihrem Handeln sicherer geworden sind. Mit Geschick inszenieren sie die Unterrichtssituationen. Das sinnessichere Handeln scheint sich auch auf das Verhalten der einzelnen Kinder auszuwirken Deutlich zeigt sich dies bei vorher als sehr zurückhaltend und in sich zurückgezogen erscheinenden Kindern, die über aktiven Unterricht selbst in Bewegung geraten sind und deren Bewegtheit sich in einer erstarkten Identität zu äußern scheint. Die Klassenlehrerin erklärt sich eine solche gravierende Veränderung gerade bei vorher zurückhaltenden, ängstlichen Kindern folgendermaßen: "Während ich in meinem "alten" Unterricht die aktiven Kinder oft zurückdrängen mußte (man mußte sich ja meiden, um dranzukommen), um auch dem sogenannten schwächeren Kind eine Chance zu geben, geriet ein solches Kind dann geradezu in eine Falle. Wehe, wenn es nun versagte und die sich aufdrängenden Kinder ihren Unmut äußerten. wie viel besser sie das gekonnt hätten - ein Teufelskreis, der nun in einem mit aktiver Hilfe der Kinder inszenierten Unterricht aufgebrochen werden kann." Rückblickend darf man hierbei jedoch nicht unterschätzen, welche Umstruktuierungsarbeit die Lehrerin wohl bei sich selbst vornehmen mußte, für diese neue Art von Unterricht, der den Kindern eine aktivere Rolle zumutet. Pädagogisches Umdenken ist gefordert, wenn Schule selbst ein Bewegungsraum darstellt, ein Raum, in dem Menschen, vor allem Kinder, stets als lebendige Wesen handeln können.

Angesichts des verbreiteten Bewegungsmangels, dem "Schwinden der Sinne"' in unserer zivilisierten und technisierten Welt ist es dringend geboten, einen bewußteren Umgang mit dem eigenen Körper und reflektierte sinnliche Erfahrung in den Unterrichtssituationen zu fördern. Themen sind wichtig, die Kinder sensibel machen für Fragen qualitativ guter Haltung und Bewegung. Hier besteht ein eigener Auftrag für die Bewegungserziehung: vor allem sich seiner selbst sicher zu werden", um letztlich sinnessicher handeln zu können. Wir haben deshalb versucht, eigens Themen aufzugreifen, die Haltungs- und Bewegungsprobleme aufwerfen, zunächst im Schulalltag, aber auch mit dem Blick auf die Lebenswelt der Kinder. Unterstützend werden solche Thematisierungen auch im Sachunterricht erarbeitet, insbesondere dann, wenn es um entsprechende Wissensaneignung geht.

Zur Illustration will ich einige Beispiele geben:

"Ich kann mich halten", war hier ein geeignetes Anfangsthema für solcherart Unterricht. Das anfangs in der mobilen Klasse wohl sofort, wahrgenommene Fehlen der Stühle, dadurch die bequeme Unterstützung des Rückens vermissend, regte zur Frage an: Wie geht denn das - sich selbst halten zu können? Das Herausspüren von An- und Entspannung bei Aufgaben wie: "Wer kann ganz gestreckt auf der umgedrehten Halbwalze liegen oder auch sich locker an deren Bogen anschmiegen? Wer kann von Quader zu Quader auf dem Rücken liegend eine Brücke bilden, wobei z.B. nur Kopf und Fersen aufliegen?" führte zur Diskussion, wie schaffen wir das eigentlich, uns festzuhalten? Erste Erklärungen, wie "ich habe mich ganz steif gemacht", "alles fest angespannt", "meine Schwester, die ist gerade ein Jahr alt, fällt immer wieder hin, sie hat gerade das Aufstehen gelernt, die kann noch nicht anspannen, deshalb wackelt sie" leiteten über zum Problem des Balancehaltens beim Aufrechtsitzen, Stehen und Gehen. Im Sachunterricht untersuchten die Kinder ihren Körper genauer - aufgerichteter bzw. zusammengesackter Rücken, die Rolle der Wirbelsäule (Knochenschlange nannte sie ein Mädchen), die Stabilisierung durch die Muskulatur wurde erkundet. Anhand von Balancesituationen nüt unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad konnte jedes Kind für sich herausfinden, was es zu tun gilt, um in Balance bleiben zu können. Im Üben auf unterschiedlichstem Untergrund, im gegenseitigem Sichzeigen und Besprechen wurden Fortschritte gemacht. Die Balance- Sicherheit ist bei den einzelnen Kindern deutlich gewachsen (Verschiedene Balancesituationen, Stehen, Knien u.a. auf der Halbwalze, Balanceweg).

Ein weiteres Thema, das sich unmittelbar aus dem Sichhaltenkönnen ergab - vor allem beim aufgerichteten Stehen und Gehen, war das Thema "Meine Füße". Die Leistung der Fiiße als wichtige Verbindung zum Untergrund bei miß- oder gelingender Balance scheint äußerst bedeutsam. Wie meine Füße den Boden fassen, das Herausspüren von Gewichtsverlagerangen bei leichtem Vor-, Zurück- oder Seitneigen mit aufrechtem Körper, den Untergrund das Widerlager zu finden bei kleiner Unterstützungsfläche wurde immer wieder gesucht und erprobt.

Beim Thema "die Füße unsere zweiten Hände" im Sachunterricht, ging es im einzelnen um den geschickten Gebrauch des Fußes beim Malen, beim Greifen, allgemein beim Hantieren mit dem Fuß; um den Aufbau des Fußes im Vergleich mit der Hand.

Weitergeführt wurde das Thema "Füße" im Sportunterricht: Die Bedeutung federnder Fußarbeit beim Gehen, Laufen, Springen (Die "Fußfeder") und allgemein um die Rolle der Füße bei sicherer Balance.

Bei den Themen bewußten Körperlernens steht das ganzheitliche Wahrnehmen im Vordergrund. Mit dem Körper be-greifen zu lernen in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und der materialen Umwelt bildet die grundständige Aufgabe. Über den wahrgenommenen Zusammenhang von "Spüren und Bewirken" [3] bringe ich mein Tun in Erfahrung und dies sowohl im Miß- als auch im Gelingen. Aber erst über das bewußte Einschätzen eines erfahrenen Zusammenhangs lerne ich sicher zu handeln. Gelingendes Tun verschafft mir Sicherheit, wenn ich sicher erspürt habe, so geht's oder auch die Leiderfahrung des Mißlingens mahnt einerseits zur Vorsicht, jedoch auch zu neuem Ausprobieren.

Das Konzept "Mobile Schulklasse" versucht gerade selbständiges und selbsttätiges Erschließen von Situation, Räumen, Materialien anzuregen und eine erfolgversprechende Umsetzung durch die mobile Architektur zu initiieren.

Das bewußte Körperlernen versucht jenes in einem solchen Unterricht steckende Erfahrungspotential durch den reflexiven Umgang nüt dem eigenen Körper noch weiter zu stärken.

Wenn ich weiß, was ich kann, bin ich mir sicher oder auch bewußt vorsichtig.

LITERATUR

[l] Rumpf, R., Über den zivilisierten Körper und sein Schulschicksal, in: Zeitschrift Pädagogik, Heft 6, S. 6, 1996.

[2] Sobczyk, B., Die Essener Bewegungsbaustelle: Das mobile Klassenzimmer, in: Zeitschrift Sportpädagogik, Heft 6, S.47-49, 1995.

[3] Trebels, A.H., Bewegungsgefühl: Der Zusammenhang von Spüren und Bewirken, in: Zeitschrift Sportpädagogik, Heft 4, S. 12-18, 1990.